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Nichtsweh

Wir sind oft umgezogen als ich klein war, meine Mutter und ich. Egal ob Montessori, Waldorf oder staatlich - Kinder tragen einem ubiquitär nach, dass sie sich an keinen Sonntagnachmittag erinnern können, an dem man mit ihnen über Zäune geklettert ist oder Krötenlaiche beschützt hat. Die Einsamkeit, so glaube ich, hat mich empfindlich gegen die Grobheit vieler Mitmenschen gemacht und der laute Whiskey-Bariton meiner Mutter stimmte nur im Gesang des Gegenwindes mit ein. Ich habe es wochenlang in katatonischer Kontaktkarenz inmitten pubertierender Land- und Stadtkinder ausgehalten, landete irgendwann aber immer in jenen Zimmern, die nach Kinderschlaf und heimlichen Zigaretten auf der Fensterbank rochen. Die zuversichtliche Neugierde von Fremden, die es durch offene Fenster in Sommernächten hineinstäubte, und gewisse Eigentümlichkeiten kriegerischer oder friedlicher Vorgänge im Inneren, schienen damals von Bedeutung. Einer dieser Fremden traute mir damals die geheime Erleuchtung an, zu der er über die Liebe gekommen war: Er betrachtete sie wie Vandalismus. Jemand investiert Geld in Farbe, um sie an eine Wand zu streichen, und jemand anderes investiert Geld in Farbe, um sie wieder zu überstreichen. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ihn über den Geräteschuppen und den Komposthaufen aus dem Fenster zu scheuchen. Genau das war es, was ich hören wollte, um ehrlich zu sein. Mein augenfälligstes Wesensmerkmal waroder ist nämlich die Absenz dieser zuversichtlichen Neugierde. Eigentlich keine Eigenheit meines Wesens, sondern eine einverleibte Lehre aus der Furcht, andere zu Erkundigungen nach meiner Person zu veranlassen. Meiner Person und meinem Körper. Nicht einmal im Zwielicht wollte ich meinen Körper preisgeben. Jegliche Affirmation des Wortes Licht musste undurchbrechlich verbannt sein, alleinig Dunkelheit sollte die Flächen jeder Dimension bedecken. Stille und Dunkelheit bildeten normalerweise den einzigen Kompromiss, den ich mit allen Menschen einging.
Es gab bisher nur einen Menschen, in dessen Anwesenheit ich es keine Sekunde ausgehalten habe, ohne ihn auf mich aufmerksam machen zu wollen. Normalerweise läuft es anders herum, wenn du den Tresen schrubbst und das Shirt dabei in den Bügel des BHs klemmst, um jede erregte Pupille zu noch mindestens einer halben Promille zu überreden. Er war kein gesprächiger Mensch, was allerdings auch implizierte, dass er nichts falsches sagen konnte, obwohl das ja sein Beruf sei, wie er mir eröffnete. Jules war so frei, so frei von Wertung und voreiligen Akquisen. Frei von alldem und frei das alles zu tun. Vielleicht verliebte ich mich in den Gedanken, mit so jemandem zusammen zu sein. Der Gedanke, von ihm zu lernen frei zu sein, war beinahe ebenso fremd.. Und Heimweh hatte ich nie gehabt, immer zog es mich in die Fremde. Der Nachteil an der Fernweh, wie ich schnell lernte: Wenn man sie stillt, wächst sie statt abzuebben.

Sobald wir uns verlassen
Aufeinander
Sollten wir begreifen
Was uns angeht

5 Kommentare:

  1. Liebe Elena, es ist kein Problem wenn du länger zum Antworten brauchst. Ich kenne das gut.
    A. ist der Mensch mit dem ich die missbräuchliche Beziehung hatte von der ich erzählt habe.. Auseinander gegangen sind wir nachdem ein Streit zwischen uns so eskaliert ist, dass ich in der Notaufnahme gelandet bin und und ich wusste, wenn ich es jetzt nicht schaffen würde zu gehen, dann würde ich es niemals schaffen.

    Es ist so heftig, dass du mit 15 eine Abtreibung hattest. Das tut mir so leid. Darf ich fragen wie sich das auf dein heutiges Leben auswirkt und wie du damit klar kommst? Es tut mir leid, dass deine Mutter das alles noch schwerer für dich gemacht hat, anstatt dir bei zu stehen..

    Mir geht es aktuell leider gar nicht gut. Aber ich weiß nicht so recht warum. Es gibt verschiedene Gründe, aber keiner erscheint mir ausreichend dafür wie schlecht es mir geht.. :/

    Dein Post ist so tief.. und besonders. Ich habe das Gefühl du kannst und konntest die Welt schon immer auf eine Weise sehen die den meisten Menschen für immer verborgen bleiben wird. Ich bewundere deine Art zu denken und deine Art zu schreiben.
    Es tut mir leid, dass du in deiner Kindheit so oft umziehen musstest. Das war bei mir leider auch so. Ich habe als Kind immer wieder versucht eine Zone der Sicherheit um mich herum zu errichten und immer und immer wieder wurde sie mir entrissen und ich in eine völlige Leere geschmissen. Und trotz aller Bemühungen fiel es mir von Mal zu Mal schwerer irgendeinen Zugang zu den neuen Menschen zu finden, die in mein Leben kamen. Zu viel hat uns unterschieden und ich glaube bei dir war es ähnlich, wenn nicht noch extremer. Ich denke Kinder, die nie so tief verletzt wurden, können nicht so tief in die Welt hinein sehen - einfach weil sie es nicht müssen um zu überleben. Und ich wünschte kein Kind müsste das können.
    Ich wünschte, du hättest eine glückliche Kindheit haben dürfen..

    Alles Liebe <3
    Lia

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  2. Oh Elena,
    der Text ist irgendwie wunderschön, auch wenn er auch so viel Traurigkeit in sich trägt!

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  3. ich wette, du kennst dieses Gefühl nicht, dass man sich zu unpräzise ausdrückt, dass da etwas fehlt. Ich kenne niemanden, (der nicht gerade Autor ist oder so), der sich so ausdrücken kann!

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  4. Aaaah, Elena! Ich war so lange nicht mehr hier und das lese ich so schöne Sachen von dir! Ich habe mir deine letzten Posts durchgelesen und musste feststellen, wie sehr es mir gefehlt hat, diese Sprachpräzision zu genießen und auf mich wirken zu lassen!

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  5. "Der Nachteil an der Fernweh[...]: Wenn man sie stillt, wächst sie statt abzuebben."
    so true

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Vielen Dank für jeden Kommentar ♥
Ich behalte es mir allerdigs vor, Anfragen auf gegenseitiges Verfolgen etc entweder zu ignorieren, entzürnt zu reagieren oder es einfach zu löschen. Comprende?